Erzhof
Erzhof
- alter Hof
Erzhof war ein Ort, den man nicht einfach auf der Landkarte fand, zumindest nicht auf den üblichen. Er lag verborgen zwischen dichten Wäldern,
eingerahmt von schroffen Hügeln und tief eingeschnittenen Tälern, wo der Nebel oft wochenlang über den Baumwipfeln hing wie ein ewiger Schleier über etwas Vergessenem.
Der Weg dorthin war kaum ausgeschildert, und wer sich nicht auskannte, fuhr leicht daran vorbei, denn die Straße führte nur in eine Richtung – hinein in eine andere Zeit.
Das Dorf selbst war klein, kaum mehr als ein Dutzend Häuser, die aus dunklem Stein errichtet waren, mit tiefen Dächern aus Schiefer, die sich in regnerischen Nächten anhörten, als würde der Himmel flüstern.
Doch im Zentrum, leicht erhöht auf einem kleinen Plateau, stand der Hof, nach dem alles benannt war: Erzhof.
Der Name klang hart und mineralisch, und vielleicht passte das auch zu der Geschichte des Anwesens, denn einst, so erzählten die Alten, war hier das Zentrum eines florierenden Bergbaus gewesen.
In den umliegenden Hügeln fand man Silberadern, Zinn und Spuren von Erz, die dem Hof seinen Namen gaben.
Über Jahrhunderte hinweg hatten Generationen in den Minen gearbeitet, die sich wie ein unterirdisches Netz durch die Berge zogen.
Doch mit der Zeit versiegte der Reichtum, die Stollen fielen in sich zusammen, und der Hof, einst von Arbeitern und Aufsehern, von Alchemisten, Köhlern und Schmieden belebt, wurde stiller, älter, müder.
Und dennoch blieb er bewohnt.
Die Familie, die Erzhof über all die Jahrzehnte hinweg gehalten hatte, galt als verschwiegen, fast zurückgezogen, aber nie abweisend. Man sagte, sie hätten die Geschichten der Erde in ihren Händen,
könnten anhand eines einzigen Steins die Geschichte eines ganzen Tals erzählen. Besonders die alte Matriarchin, die alle nur Großmutter Edda nannten, schien mit dem Hof verwachsen zu sein.
Ihr Gesicht war zerfurcht wie das Land selbst, und ihre Stimme hatte jenen Ton, der mehr sagte, wenn sie schwieg. In ihrem Haus roch es nach getrockneten Kräutern, Eisen,
Holzrauch und einem Hauch von Vergangenheit, der sich nicht lüften ließ. Besucher, die einmal dort übernachteten – meist Wanderer, die sich verirrt hatten oder neugierige Fremde auf der Suche nach dem Geheimnisvollen –,
berichteten oft von merkwürdigen Träumen, in denen sie durch Gänge aus Obsidian liefen, Stimmen hörten, die alte Sprachen sprachen, und Türen sahen, die sich nur mit einem Gedanken öffnen ließen.
Doch Erzhof war nicht nur ein Ort der Vergangenheit. In den letzten Jahren begann sich etwas zu verändern.
Junge Leute kamen zurück, Enkel und Urenkel derer, die einst fortgezogen waren, angelockt vielleicht von der Sehnsucht nach etwas Echtem, Ursprünglichem.
Sie begannen, den Hof nicht zu erneuern, sondern weiterzudenken – mit Respekt vor dem, was war. Aus der alten Schmiede wurde eine Werkstatt für nachhaltige Metallkunst,
das ehemalige Stallgebäude verwandelte sich in einen offenen Raum für Künstler, Denker und Reisende, die fernab der Städte Inspiration suchten.
Man experimentierte mit Pflanzenfarben, mit Gesteinsmehl aus den verlassenen Stollen, mit Klanginstallationen, die auf die natürlichen Frequenzen des umliegenden Gesteins abgestimmt waren.
Es war keine Wiederbelebung im klassischen Sinn, sondern eher eine stille Rückkehr. Der Hof atmete wieder – langsam, tief, mit einer Würde, die nicht laut war, aber spürbar.
Und wer in einer klaren Nacht auf dem kleinen Hügel hinter dem Haus stand, konnte die alten Mauerlinien im Licht des Mondes erkennen,
die Wege, die früher zu Schächten führten, das Schimmern von Quarzsplittern im Boden. Dann verstand man, dass Erzhof nicht nur ein Ort war, sondern ein Gedächtnis, das in der Erde, in den Händen,
in den Stimmen der Menschen weiterlebte. Kein Museum, keine Kulisse, sondern ein gelebter, atmender Ort, der sich nicht erklären ließ, sondern nur erleben. Und wenn der Wind durch die Bäume zog,
konnte man meinen, er trage etwas mit sich, das älter war als Worte – das Wissen um das, was bleibt.